Erst sind die Kinder aufgedreht, dann ist das Geheule groß, weil falsche Geschenke unter dem Tannenbaum liegen. Wie Eltern Gefühlschaos und Stress abfedern können.
VON NORA BURGARD-ARP – Zeit Online

Das Kerzenlicht spiegelt sich in den Augen meiner Kinder, die ehrfürchtig vor dem Christbaum stehen. Wir singen ein paar Lieder, sie packen langsam und gesittet ihre Geschenke aus – eins nach dem anderen natürlich – bevor sie uns Eltern dankbar und glücklich um den Hals fallen. Danach wird stundenlang im neuen Buch gelesen oder mit den neuen Bauklötzen gespielt, während wir Erwachsene auf dem Sofa vor uns hindösen. Das ist er: mein ganz persönlicher Traum von Heiligabend.
Die Realität sieht oft anders aus. Nicht nur bei uns zu Hause. Kinder, die schon morgens überdreht durch die Wohnung rennen, laut kreischen und permanent fragen, wann denn endlich der Weihnachtsmann kommt. Eltern, die von Stunde zu Stunde angespannter und gestresster werden.
Und dann kommt womöglich auch noch der Showdown am Abend: Die Geschenke werden aufgerissen, nicht ruhig, sondern hektisch. Ein Kind weint, weil der Herzenswunsch nicht erfüllt wurde.
Vielleicht folgt ein Wutanfall, weil das ferngesteuerte Auto die falsche Farbe hat.
Geschwister sind sauer, weil der Bruder oder die Schwester mehr Geschenke bekommen hat. In den Eltern brodelt es und ein fieser Gedanke setzt sich fest: Ich reiße mir den Arsch auf und die Kinder wissen das überhaupt nicht zu schätzen!
“Weihnachten ist der Superstar unter den Feiertagen”, sagt die Psychologin Gabriele Birnstein, die als Coachin auch Menschen in Stresssituationen berät. Und genau das sorge schon vorher für Stress: “Einerseits ist da die Vorfreude und die Hoffnung auf eine besinnliche Zeit und andererseits ist da der Druck, alles zu allseitiger Zufriedenheit und rechtzeitig bis zum Fest zu schaffen. Und dabei läuft der ganz normale Arbeits- und Familienalltag erbarmungslos weiter”, , sagt Birnstein.
Weihnachten ist also nicht nur das Fest der Liebe – es ist auch das Fest des Perfektionismus, des Stresses und der unrealistischen Erwartungen. Wie kann es trotz alledem harmonisch werden, wie lassen sich Enttäuschungen auf allen Seiten vermeiden? Und die für mich wichtigste Frage: Müssen Kinder überhaupt dankbar sein? Oder überfrachten und überfordern wir Eltern sie mit unseren eigenen Ansprüchen?
Das Kind als Schauspieler?
Um diese Frage zu klären, spreche ich mit Oliver Dierssen. Er ist Facharzt für Kinder-und Jugendpsychiatrie und schreibt Bücher und Kolumnen zum Thema Erziehung.
“Kinder empfinden Freude, wenn ihnen etwas geschenkt wird, und auch kleine Kinder können diese Freude schon in Verbindung mit demjenigen bringen, der es beschenkt hat”, erklärt er. Das sei aber nicht zu verwechseln mit einer empathischen Dankbarkeit. Denn dazu brauche es die Fähigkeit, innerlich mit der anderen Person den Platz zu tauschen und den ganzen Vorgang aus ihrer Sicht zu sehen. Kinder würden diese Fähigkeit ungefähr im späteren Grundschulalter erlernen, manche können es auch schon früher. “Aber auch wenn es länger dauert, ist das überhaupt nicht schlimm”, sagt er.
Generell sei es wichtig, sagt Dierssen, dass Kinder in gutem Kontakt mit ihren eigenen Gefühlen stehen, also dass sie sich keine Gefühle einreden oder sich verstellen, nur weil andere das von ihnen erwarten.
Gefühlen stehen, also dass sie sich keine Gefühle einreden oder sich verstellen, nur weil andere das von ihnen erwarten.
“Deshalb sollte man sich als Eltern unbedingt fragen: Möchten wir, dass unser Kind unterm Weihnachtsbaum zum Schauspieler wird und Freude vorspielt, oder darf es auch einfach ungefiltert fühlen, was es fühlt, und dann gegebenenfalls auch mal enttäuscht aus der Wäsche gucken?”, sagt Dierssen.
Dabei gibt es aber einen wichtigen Unterschied – und zwar zwischen der Gefühls- und der Handlungsebene. Denn natürlich gibt es Umgangsformen in unserer Gesellschaft. Dazu gehört eben auch, dass man sich bedankt, wenn man ein Geschenk bekommt. Und dass man das Geschenk nicht wütend in die Ecke wirft oder kaputt macht, wenn es einem nicht gefällt. “Ein Kind im Grundschul- oder späten Kindergartenalter kann das auf jeden Fall auch lernen”, sagt Oliver Dierssen. “Aber ob es den Erwachsenen mit Freudentränen um den Hals fällt oder ob es das Geschenk mit enttäuschtem Blick zur Seite legt, ist einzig und allein die Sache des Kindes. Da braucht ihm niemand reinreden oder ihm gar sagen, wie es sich jetzt zu fühlen hat.” Eher sollten Eltern oder Großeltern in diesen Momenten ihre eigenen Gefühle regulieren – und ihre eigene Enttäuschung oder ihren eigenen Frust nicht auf das Kind übertragen.
Nicht ganz einfach, an einem Tag, an den wir womöglich selbst zu hohe Ansprüche stellen. Doch es gibt ein paar Kniffe, um Frust zu vermeiden – bei Kindern und Erwachsenen. So sei es sinnvoll, die Erwartungen der Kinder schon früh in realistische Bahnen zu lenken, sagt Gabriele Birnstein, und zum Beispiel klar zu kommunizieren: Das Pony wird ganz bestimmt nicht unterm Weihnachtsbaum stehen. Auch kann man größeren Kindern von vornherein signalisieren, welcher Wunsch einfach zu teuer ist, oder erklären, aus welchen Gründen man einen bestimmten Wunsch nicht erfüllen möchte.
Ein weiterer Tipp der Psychologin: Den Kindern schon vor dem Fest sagen, wie viele Geschenke es geben wird.
Für mich ist das eine seltsame Vorstellung.
Aber Birnsteins Erklärung klingt einleuchtend. Wenn die Kinder von vornherein wissen, dass sie genau drei Geschenke erwarten können, ist es auch unwahrscheinlicher, dass sie sich über “zu wenige” Pakete beschweren. Gerade bei kleineren Kindern sei die Begrenzung aus noch einem weiteren Grund sinnvoll, sagt Birnstein: “Zwei- oder dreijährige Kinder reißen bei zu vielen Geschenken wahllos ein Päckchen nach dem anderen auf, sind überfordert und wissen nicht mehr, womit sie zuerst spielen sollten.” Deshalb sei es auch eine Überlegung wert, weitere Geschenke von Verwandten oder Freunden über die Festtage zu verteilen.
Enttäuschung und Frust aushalten
Wichtig sei außerdem, dass Eltern ihre eigenen Bedürfnisse und Grenzen gut kennen – und dass sie vor allem erst mal auf ihren eigenen Puls schauen, sagt Oliver Dierssen. Dann könnten sie frühzeitig Druck aus Situationen nehmen, in denen ihnen alles zu viel wird. Wenn kleine Kinder zum Beispiel schon durch das Schmücken des Tannenbaums und das Krippenspiel derart überfordert sind, dass die Stimmung zu kippen droht, könnte man zum Beispiel entscheiden, dass der Weihnachtsmann erst am nächsten Morgen kommt. Auch können Eltern überlegen, was im vergangenen Jahr für besonderen Stress gesorgt hat und im Vorfeld entscheiden, den Besuch des Weihnachtsgottesdienstes oder andere Verpflichtungen abzusagen oder ein einfaches, schnell vorbereitetes Essen zu planen.
Aber was tun, wenn es trotz Erwartungsmanagement und allen Vorbereitungen knallt? “Wenn es doch zu Enttäuschung, Frust und Heulerei unterm Weihnachtsbaum kommt, ist das erste Gebot: nicht die Nerven verlieren und losschimpfen!”, sagt Gabriele Birnstein.
Stattdessen sei es wichtig, Verständnis zu zeigen und zum Beispiel zu sagen: “Ich verstehe dich, das tut jetzt weh, aber es kann nicht jeder Wunsch in Erfüllung gehen!” Es sei sehr wichtig für die Entwicklung der Kinder zu lernen, Enttäuschung und Frust auszuhalten.