Die Schlacht im Schlaraffenland

„Ich denke eigentlich immer an’s Essen!“ Eine Aussage, die viele Menschen sofort bestätigen. Einigen sieht man diese Nahrungsfixierung auch an, denn ihre Korpulenz verrät die Leidenschaft. Andere sind optisch völlig unauffällig, aber innerlich tobt auch bei ihnen die Schlacht im Schlaraffenland. Nur ständige Kontrolle und eiserne Disziplin verhindern bei ihnen das Schlimmste: ein hemmungsloser Anstieg des eigenen Körpergewichtes.

Dicke, aber auch schlanke Menschen schämen sich häufig, wenn sie sich überdurchschnittlich viel mit Nahrungsmitteln, deren Zubereitung und ihrem Genuss beschäftigen. Wenn sie zu häufig daran denken und darüber reden. Wer immer über’s Essen spricht, aber trotzdem ungewöhnlich schlank ist, wird auch schon mal misstrauisch beäugt: der Verdacht eine Magersüchtige am Start oder eine Ess-Brechsüchtige beim Tarnen und Täuschen erwischt zu haben, wird dann meist voreilig und hinter vorgehaltener Hand geäußert.

Unser gesamtes Umfeld ist mit Lebensmitteln übersät. Schon morgens servieren Radiowerbung, abonnierte Zeitschriften und Frühstücks-TV die Thematik „essen“ in unterschiedlichster Verpackung. Regelmäßige Kochrubriken, Kochduelle, Kochen à la carte mit Prominenten, junge Kochkünstler wie der englische „Jamie“ oder sein deutsches Pendant der „Tim Mälzer“ appellieren fast täglich an unsere Gelüste.

Ein Spaziergang durch die Stadt wird für den Lebensmittelmüden schnell zum Spießrutenlauf: Essbares soweit das Auge reicht. Kein Kaufhaus ohne Fressabteilung mit Bistros aller Kulturen für den kleinen Hunger zwischendurch. Den Fleischerei- oder Bäckereifachgeschäften mit ihren täglich wechselnden Mittagstischen und Snackideen kann man ja noch entkommen. Aber spätestens an der Tankstelle wird der arglose Autofahrer beim Bezahlen vom appetitlichen Geruch vor Ort frisch gebackener Brötchen und allerlei anderen Grilldüften aus der Imbissabteilung überfallen.

Aber auch das gesamte gesellschaftliche Leben ist von Essbarem eingerahmt. Keine Eröffnung, ob kulturell oder kommerziell, ohne fingerfood oder Schnittchen, auf jeder Party haben wir den Salat, beim Candle-Light-Dinner treffen sich Verliebte; Hochzeiten, Geburtstage, Begräbnisse und Feiertage wie Ostern oder Weihnachten – es gibt garantiert jede Menge zu verspeisen. Das Arbeitsessen ist fester Bestandteil des Berufslebens und Politik wird oft genug während des Essens gemacht. Auch Komplimente, Belohnungen und der Wunsch sich näher kennen zu lernen, sind meistens mit einer Einladung in ein tolles Restaurant verbunden. Gastfreundschaft wird beim üppigen gemeinsamen Mahl zelebriert. Und zuhause bei den Eltern kommt erst mal was Anständiges auf den Tisch, das Kind sieht ja ganz verhungert aus.

Wen wundert es eigentlich, dass bei dieser permanenten optischen, akustischen und olfaktorischen (geruchlichen) Präsenz von Nahrungsmitteln in jeder Form und Farbe, unsere Gedanken immer stärker um’s Essen kreisen: Was esse ich heute, wonach gelüstet es mich jetzt, was gibt es zum Abendbrot, ein Stückchen Torte zwischendurch wäre auch nicht schlecht. Das ständige Überangebot erschwert die Auswahl und die Entscheidung fällt besonders schwer, wenn die Alternativen scheinbar alle gleich lecker sind. Einige Restaurantbesucher reagieren beim Lesen der Speisekarte geradezu neurotisch: hoffentlich treffe ich auch die richtige Wahl, was isst denn mein Begleiter?? Kellner kennen die unsicheren Nachfrager und ständigen Umbesteller nur zu gut. Wer gerne isst, möchte auf keinen Fall enttäuscht werden. Fast so, als sei jede Mahlzeit, die allerletzte, die Henkersmahlzeit sozusagen. Dabei sollte man sich eigentlich vor Augen führen, dass man jeden Tag, also 365 Tage im Jahr etwas essen darf und man sich heute Abend mit einem kleinen Verzicht schon auf das unbeschränkte Frühstück von morgen freuen darf. Denn Vorfreude ist bekanntlich die beste Freude – mit null Kalorien.